Lew Dimitrijewitsch Gudkow will vom Westen nur eines, Klarheit. Laut und deutlich sollten Politiker und Medienschaffende ihre Kritik an der Politik Putins formulieren, sagt der Chef des russischen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum, den wir an diesem Morgen im Hotel «Grenzfall» nahe der einstigen Berliner Mauer treffen. Mit der These, dass man sich zurückhalten müsse gegenüber dem Kreml, dass Kritik eine dumme, eurozentristische Anmassung und mithin ein taktischer Fehler sei und dass Russland durch ein Übermass an Deutlichkeit nur in die Isolation getrieben werde: Damit kann der 67-jährige Soziologe nichts anfangen. Angst, dass der Zorn des Kremls, entfacht durch unbotmässige westliche Kommentare, nicht nur ihn und sein Institut, sondern die gesamte erwachende Bürgergesellschaft treffen könnte, hat er auch keine. «Die Machthaber halten sich sowieso nicht an Regeln. Wenn sie uns fertigmachen wollen, können sie das jederzeit tun. Einen Vorwand brauchen sie nicht.»
Schonung bitte
Ein deutscher Politiker, an dem Gudkow keine rechte Freude haben kann, ist Peer Steinbrück. Der sozialdemokratische Kanzlerkandidat sagte jüngst in einem Interview, es sei an der Zeit einzugestehen, dass sich «unsere westlichen Massstäbe pluraler Demokratie nicht unmittelbar auf Russland» übertragen liessen. Natürlich solle man auf Demokratiedefizite und Menschenrechtsverletzungen hinweisen. Aber bitte nur «in bilateralen Gesprächen und nicht auf dem Marktplatz». Beachte man diese Prinzipien nicht, verbaue man sich die Zugänge, über die praktische Fortschritte zu bewirken seien. Russland sei ein Partner, und der Westen tue gut daran, die Interessen des Kremls zu berücksichtigen.
Für einen, der im Umgang mit Kleinstaaten die Kavallerie als probates Druckmittel betrachtet, sind das erstaunlich feinfühlige Worte. Ausser «Russland ist wichtiger» oder «Russland ist stärker» fällt einem nicht wirklich eine Maxime ein, mit der sich Steinbrücks selektive Aussenpolitik logisch begründen liesse – es sei denn, man glaube wirklich daran, durch Zurückhaltung seien Fortschritte zu erreichen. Angesichts der ostentativen und stets gerne aufs Neue demonstrierten Bereitschaft Steinbrücks, der befreundeten Demokratie Schweiz auf dem Weg ins Wunderland fiskalischer Tugendhaftigkeit auf die Sprünge zu helfen, wirkt jedenfalls die Scheu davor, ein wenig auf der empfindlichen russischen Seele herumzutrampeln, recht schäbig. Und es lässt den Verdacht aufkommen, hier gehe es in Wirklichkeit um anderes, um Wirtschaftsinteressen zum Beispiel, die man lieber kaschieren will.
Dominanz der Alten
Die Rücksichtnahme auf Russland hat bei deutschen Sozialdemokraten Tradition. Als vor ein paar Wochen in Moskau die «Agenten» ausländischer Einrichtungen, auch die sozialdemokratische Friedrich-Ebert-Stiftung, mit Razzien überzogen wurden, war von Steinbrück, dem kantigen Klartext-Produzenten, nichts zu hören. Die übrigen Akteure – das Auswärtige Amt, zahlreiche bürgerliche Politiker, die Kanzlerin, die Stiftungen selber – reagierten rasch und forsch, in Einzelfällen sogar heftig. Der russische Gesandte wurde ins Auswärtige Amt bestellt, die Empörung war gross, auch in den Medien und in der Bevölkerung. Zahlreiche Feuilletonisten fühlten sich an die Stalin-Ära erinnert. Die Sozialdemokraten indessen beliessen es bei einem peinlich berührten Erheben des Mahnfingers.
Das ist bezeichnend für eine Partei, in der aussenpolitisch praktisch nur noch ältere Herren den Ton angeben, wie Manfred Sapper von der Zeitschrift «Osteuropa» unterstreicht. Die Russlandpolitik der Sozialdemokraten wird bis heute im Wesentlichen von Leuten wie Altkanzler Schmidt, Erhard Eppler oder Gernot Erler formuliert, deren Denken noch von der Entspannungspolitik geprägt ist. Schmidt, er hat es oft kundgetan, ist prinzipiell dagegen, sich in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen. Er hält die Menschenrechte für ein Produkt der westlichen Kultur, das sich nur schwer exportieren lässt, und hält nicht einmal das, was man gemeinhin «konstruktive Kritik» nennt, für zielführend. Den belehrenden Zeigefinger verabscheut er.
Schröder vertritt eine ähnliche Linie, ergänzt aber im Gegensatz zu Schmidt die Theorie durch Praxis aufs Profitabelste. Dass er sich als Aufsichtsratsvorsitzender der Nord Stream AG in die Dienste von Gazprom gestellt hat, betrachten nicht nur bürgerliche Kreise in Deutschland als skandalös. Und auch Genossen winden sich, wenn sie daran denken, wie fröhlich Schröder bei der pompösen Amtseinführung Putins neben dem starr strahlenden Berlusconi sass.
Der Affront der Kanzlerin
Gudkow ist nach Berlin gekommen, um an der Konferenz «Was war der Kommunismus?» teilzunehmen, die das Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität veranstaltet hat. Er traf dabei auf viele Kritiker vom Schlage Steinbrücks, doch auch auf Sympathisanten, die seine Forderungen sehr wohl verstehen. Und mit einiger Genugtuung konnte er konstatieren, dass diese heute in der deutschen Regierung sogar eine recht starke Stellung einnehmen. Zu verdanken haben sie dies Kanzlerin Merkel, die im Gegensatz zu Schmidt und Schröder, aber auch zu Kohl, nicht die geringsten Hemmungen hat, mit Putin Klartext zu sprechen. Dass Kohl, Schmidt oder Schröder den Eklat um die Beutekunst veranstaltet hätten, den Merkel eben in Sankt Petersburg inszenierte, und zwar ohne mit der Wimper zu zucken, genüsslich fast, ist vollkommen undenkbar.
Bekanntester Protagonist dieser kremlkritischen Gruppe ist Andreas Schockenhoff, Koordinator für deutsch-russische Zusammenarbeit im Auswärtigen Amt, ein Christlichdemokrat. Mit harter Kritik an Russland und Putin löst er seit Jahren in den Reihen der SPD, aber auch in den russlandfreundlichen Teilen seiner eigenen Partei, regelrechtes Entsetzen aus. Doch die Kanzlerin stärkt ihm den Rücken.
Die russlandkritische Front ist ebenso heterogen wie die russlandfreundliche. Das Lager Merkels und der Klartextredner wird beherrscht von einer sehr inoffiziellen, aber sehr vitalen schwarz-grünen aussenpolitischen Koalition, die ergänzt wird durch unabhängige, originelle Linke. Was Schockenhoff für die CDU, sind Marieluise Beck, Sprecherin für Osteuropapolitik, und Volker Beck, Sprecher für Menschenrechtspolitik, für die Grünen. Für die beiden Becks (nicht liiert) und für Politiker wie Werner Schulz, der seit 2009 im Europäischen Parlament sitzt, ist Russlandpolitik dasselbe wie Menschenrechtspolitik, und Vorkommnisse wie die Inhaftierung Chodorkowskis oder die Verhaftung der unbotmässigen Frauenband Pussy Riot sind ernstzunehmende Vorfälle.
Eine unheilige Allianz
Ostdeutsche mit ihrer Stasi-Erfahrung und ihrer Abneigung gegen allmächtige, schnüffelnde Geheimdienste spielen hier eine wichtige Rolle. Für Menschen wie Merkel und Schulz, aber auch etwa Präsident Gauck, der zunehmend zu einer klareren Sprache gegenüber Russland findet, ist ein alter KGB-Mann wie Putin im Grunde ein Affront. Der autoritäre Charakter postkommunistischer Herrscher wird in diesen Kreisen intuitiv verstanden, man spricht die Sprache, die sie verstehen. Ganz ähnliche Positionen vertritt aber auch etwa die linksalternative «Tageszeitung», der renommierende, aufgeblasene Typen wie Putin ein Greuel sind und die an echter Basisdemokratie viel Freude hat.
Auf der anderen Seite findet sich die gleiche, unheilige Allianz aus Linken, Bürgerlichen und Grossindustriellen, die auch die Debatte über die Chinapolitik seit Jahren dominiert. Intellektueller Anführer dieser «Realisten» ist Alexander Rahr, der lange Jahre bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik arbeitete und heute als Senior Advisor für Wintershall, den grössten deutschen Erdöl- und Erdgasproduzenten, tätig ist. Rahr mischt seine Apologien Putins mit harter Kritik am Westen, der Moskau mit seiner wertorientierten Aussenpolitik bewusst reize und isoliere. Nahe an der Linie Rahrs liegen Politiker wie die Christlichdemokraten Missfelder, Chef der Jungen Union, Karl-Georg Wellmann, Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags, oder der ehemalige Botschafter in Moskau Ernst-Jörg von Studnitz. Ebenfalls dabei sind Michael Harms, Vorstand der deutsch-russischen Handelskammer, oder Ewald Böhlke, der Nachfolger Rahrs bei der Gesellschaft für Auswärtige Politik.
Putins Blindheit
Zweckheiraten linker Theoretiker mit Praktikern der exportorientierten Grossindustrie sind ein bekanntes Phänomen. Die Grossindustrie hat kein Interesse an Russland-Kritik, ebenso wenig, wie sie China-Kritik mag. Sie mag Ruhe und Investitionssicherheit, und sie kann es sich leisten, die Konditionen ihres Russland-Engagements mit den Behörden in Moskau bilateral auszuarbeiten. Das kann der Mittelstand nicht, ihm fehlen die Ressourcen dazu, er ist auf Rechtssicherheit angewiesen. Für Rechtssicherheit in Russland aber haben sich Kanzler wie Schmidt oder Schröder ganz bewusst nicht oder nur in Form von Lippenbekenntnissen eingesetzt – aus der Überzeugung heraus, mit Zurückhaltung sei «mehr zu bewirken».
«Schluss mit dem Russland-Bashing – Ein Versuch, den Nachbarn im Osten zu verstehen» betitelte jüngst auch der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete Gernot Erler, den wir in seinem Büro Unter den Linden treffen, einen Artikel in der «Zeit». Erler betreibt seit Jahrzehnten aktive Russlandpolitik und kennt die wichtigen Protagonisten persönlich, seine Kritik an der harten Linie Merkels hat ihm viel Lob von Genossen eingebracht. Erler glaubt, wie er im Gespräch darlegt, dass sich Fortschritte im Weg zu einer «Modernisierungspartnerschaft mit Russland nur dann ergeben können, wenn man betont rücksichtsvoll auftritt. Er gehört allerdings nicht zu denen, die alles, was sich in Russland entwickelt, gutheissen. Zu Rahr etwa markiert er deutliche Distanz. So bedauert er, dass Putin einfach «nicht sieht», wie wichtig Modernisierung für sein Land wäre. Doch auch Erler erklärt Putins Feindlichkeit fast ausschliesslich als Reaktion auf westliche Politik, die die Schwächen Russlands nach dem Zerfall der Sowjetunion «gnadenlos» ausgenützt habe.
Der Westen als Akteur
Dies ist der springende Punkt. In den Augen vieler «Russland-Versteher» gibt es heute im Grunde nur noch den Westen als handelnden Akteur. Der Kreml reagiert. «Zu allem Überfluss fanden ringsherum in der Ukraine oder Georgien Revolutionen statt», schreibt Erler – schon übel, was man da dem armen Putin so alles zumutete. Immerhin macht Erler nicht den Versuch, die globale Geltung von Menschenrechten infrage zu stellen, und er weist auch hin auf die intensiven Kontakte, die die SPD zu russischen Oppositionellen unterhält. Doch die Schuldigen für die derzeitige Verstimmung findet Erler vornehmlich im Westen.
Über die Siegeschancen Steinbrücks will sich Erler nicht auslassen, er belässt es bei einem gewinnenden Lächeln. Wirklich überraschend ist nur seine Bemerkung, dass sich die deutsche Russlandpolitik unter einem Kanzler Steinbrück auch nicht übermässig stark verändern würde. Die Parameter seien ja hüben wie drüben dieselben. Merkel wolle Stabilität, Handel und Kontinuität, die SPD wolle das auch. Merkel protestiere zwar bei jedem Treffen und poche auf die Menschenrechte – aber sie tue das routiniert und kurz und gehe danach schnörkellos zur Tagesordnung über. Es klingt fast wie ein Dementi der eigenen Klage. Für ganz so verheerend scheinen Sozialdemokraten wie Erler die Auswirkungen von Merkels Kritiklust dann doch nicht zu halten.
Das Land als Stütze
Etwas perplex lässt einen die Entschlossenheit zurück, mit der die Sozialdemokraten den zeitgeschichtlichen Trend verkennen. Sicher, die Emanzipationsbewegungen in Europa und an seinen Rändern folgen unterschiedlichen Gesetzen. Aber es gibt verblüffende Parallelen. Die Städte rebellieren gegen die Herrscher, das Land wird zur Kraft- und Legitimationsquelle der autoritären Machthaber. Stabilitätsangebote werden von diesen Herrschern bewusst der Landbevölkerung unterbreitet, nicht den Städten. Moskau ist gegen Putin, Janukowitsch hat Kiew verloren, Minsk ist gegen Lukaschenko. Istanbul und Ankara wenden sich gegen Erdogan, die persischen Machthaber misstrauen Teheran, und Mursis Sturz wurde am vehementesten von der urbanen Bevölkerung Kairos gefordert.
Nicht an die Städter hat sich Putin gewandt, als er die grassierende Unzufriedenheit über seine Herrschaft spürte, sondern ans Land, genau wie Lukaschenko, genau wie Mursi, genau wie die Mullahs in Iran. Gekonnt bedient er die ländlichen Ressentiments gegen Freche und Aufmüpfige, besonders Frauen, gegen Anspruchsvolle, Sushi-Esser, Hedonisten, Ungläubige, fröhliche Nichtstuer und Homosexuelle. Das ist keine vielversprechende Strategie und, wie die Beispiele aus Kiew, Minsk, Istanbul und Kairo zeigen, auf Dauer wohl auch kein Rezept zur Erhaltung von Stabilität. Ob man dies dem Kreml durch höfliches Räuspern klarmachen kann, ist die Frage.
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